„Alles inklusive“: Das Menschwerden lässt sich nicht planen - „Fachforum Inklusion“ an der FHWS
„Ich wünsche mir Inklusion, online und offline. Unterschiede, die okay sind. Vielfalt, die allen gefällt. Akzeptanz, von der sich jede_r akzeptiert fühlt. Eine digitale Gesellschaft mit Platz für jede_n“, so Mareice Kaiser im Mai 2015 über das digitale Magazin „Wired“. Die Journalistin und Autorin las im Rahmen des „Fachforums Inklusion“ an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt aus ihrem Buch „Alles inklusive. Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter" (Alles inklusive). Als ihre erste Tochter geboren wurde, waren weder Größe nach Gewicht relevant, die Frage nach „Hauptsache: gesund?“ stand offen im Raum, ehe die Eltern erfuhren, dass die Neugeborene mit „wunderschönen langen Wimpern und einem seltenen Chromosomenfehler auf dem 8. Chromosom“ auf die Welt kam, so schildert es die Mutter auf ihrem Blog „Kaiserinnenreich" (Kaiserinnenreich).
Ziel des Nationalen Aktionsplans „NAP 2.0“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ist es, durch rechtliche Änderungen, Förderprogramme, Forschungsprojekte und Veranstaltungen der UN-Behindertenrechtskonvention Geltung zu verschaffen und ihre praktische Umsetzung Schritt für Schritt voranzutreiben. Das ist der Plan - die gelebte Wirklichkeit erlebt die in Berlin lebende Autorin oft anders. Sie schildert in ihrem Blog: „Sommer 2012, ein Garten bei Hamburg. Wir feiern den Geburtstag eines Freundes und sind froh, dass unsere Tochter mit dabei ist. Nach vielen Wochen Krankenhaus ein Hauch von Normalität. Kaiserin 1 ist fast ein Jahr alt und liegt lächelnd neben einem anderen Kind auf einer Decke im Gras, die Magensonde hängt ihr aus der Nase. Viele Freunde sind da, es ist ein fröhliches Fest. Auch die Oma unseres Freundes ist eingeladen, eine freundliche alte Dame. Als sie unsere Tochter sieht, werden ihre Augen groß. Sie stützt die Arme in die Hüften und ruft entsetzt: `Oh Gott! Sowas gibt`s noch!?`“
In einer anschließenden Podiumsdiskussion tauschten sich die Teilnehmer (Mareice Kaiser, Journalistin und Autorin; Dorothee Lengsfeld, Psychologischer Dienst, Mainfränkische Werkstätten Würzburg; Professor Dr. Jürgen Seifert, Professor für Medizinische Grundlagen in der Sozialen Arbeit an der FHWS; Professor em. Dr. Hans-Michael Straßburg, Professor für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie in der Universitäts-Kinderklinik Würzburg; Gertrud Zürrlein, Zentrum für Körperbehinderte, Würzburg; Julia Rath, Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke) über das Thema „Von Frühdiagnostik bis Arbeitswelt – Erfahrungen mit Behinderung im Hilfesystem“ kontrovers aus. Moderiert wurden die Gespräche durch Johanna Hartl von den Mainfränkischen Werkstätten sowie Professor Dr. Dieter Kulke von der FHWS.
In der Diskussion kamen mehrere Themen zur Sprache. Kontroverse Meinungen entzündeten sich an dem Thema Diagnosen, die einerseits aus medizinischer Sicht unerlässlich und auch Angehörige entlasten können, aber andererseits Stigmatisierungsprozesse unterstützen können. Einig war sich das Podium mit den ca. siebzig Gästen im Publikum über die große Bedeutung der Selbsthilfegruppen, die durch das Web 2.0 noch wesentlich erweiterte Möglichkeiten des Austauschs haben. Die Diskussion endete mit einem Blick auf eine Utopie, die Mareice Kaiser auch am Ende ihres Buches formuliert, eine Utopie, in der beeinträchtigte Menschen und ihre Angehörigen keine Bittsteller mehr sind und ihnen keine Leistungen mehr verwehrt werden; eine Welt, in der Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen selbstverständlich miteinander umgehen; und schließlich eine Welt ohne strukturelle Diskriminierung, in der durch aufsuchende Soziale Arbeit die notwendigen Leistungen und die Assistenz zu den Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren Angehörigen kommen und diese, ganz im Sinne der Inklusion und der UN-Behindertenrechtskonvention am Leben in der Gesellschaft teilhaben können.
Das „Fachforum Inklusion“ im Rahmen des „Campus Community Dialogues“ der Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften hat sich u.a. zum Ziel gesetzt, zu einem vor allem regional ausgerichteten Austausch von Wissenschaft und Lehre sowie Praxis und Gemeinwesen beizutragen (Campus Community Dialogue).