Vortrag „Autismus - Ein autobiografischer Alltagsbericht“ mit fachlichen und persönlichen Aspekten
Autismus – ein Thema, das nicht erst durch die Verfilmung „Rain Man“ Interesse weckt. Die komplexe Entwicklungsstörung erreicht neben Fachkreisen auch die Öffentlichkeit. Entsprechend luden der Campus Community Dialogue sowie die Studierendenvertretung der Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt zum Vortrag „Autismus - Ein autobiografischer Alltagsbericht“ ein.
Im Anschluss an die Begrüßung durch Dekanin Professor Dr. Dagmar Unz sowie Prof. Dr. Dieter Kulke, Leiter des Fachforums Inklusion und des Vertiefungsbereichs Soziale Arbeit und Behinderung, Christina Hotz und Katharina Tervooren von der Studierendenvertretung Soziale Arbeit, wurden über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zunächst medizinisch in das Thema eingeführt. Professor Dr. Jürgen Seifert, der die Professur für medizinische Grundlagen in der Sozialen Arbeit innehat, erläuterte die Bandbreite an Autismus-Spektrum-Störungen.
Entwicklungen im Kindergarten, in der Schule und im Beruf
Den „autobiografischen Alltagsbericht“, so der Titel des Abends, übernahm der Referent Julian Leske. Der 29-Jährige hatte mit 18 Jahren die Diagnose Asperger-Autismus erhalten und schilderte seinen bisherigen Lebensweg: Bereits im Kindergarten vermuteten die Erzieherinnen und Betreuer aufgrund von speziellen Verhaltensweisen Beeinträchtigungen bei ihm. Ein Zivildienstleistender begleitete ihn anschließend kontinuierlich in der Schule. Aufgrund des Engagements seiner Mutter schaffte er den erfolgreichen Besuch der Hauptschule und erreichte dort mit 16 Jahren einen guten Abschluss. Julian: „Ich habe dann gemerkt, dass ich es schaffen kann, wenn ich meinen Grips zusammennehme.“ Nach seinem Abschluss blieb die Frage, wie es weitergehen sollte, zunächst offen.
Er verbrachte zwei Jahre in Berufsvorbereitungskursen - ohne Erfolg. Mit achtzehn Jahren unterhielt er sich auf einer Familienfeier länger mit einem Verwandten, der ihm schließlich direkt sagte: „Du bist doch Autist!“. Diese Aussage, so Leske, sei für ihn der entscheidende Wendepunkt gewesen – er fing an zu recherchieren und fand in den Medien Anhaltspunkte für die diese Vermutung. Dies bestätigte auch die Vermutung seiner Eltern, die schon seit seinem 12. Lebensjahr den Gedanken verfolgten. Heute sei er froh darüber, dass seine Eltern ihn nicht schon damals mit dieser Vermutung konfrontiert hätten, denn dann hätte er alles, was nicht funktionierte, auf seine Diagnose geschoben und nicht die Erfolge erreicht, auf die er nun blicken könne. Die Diagnosestellung habe auf ihn dreierlei Auswirkungen gehabt: „Für die Vergangenheit ist mir einiges klargeworden; in der Gegenwart hatte ich endlich etwas in der Hand; und für die Zukunft konnte ich nun meinen eigenen Weg gehen und mich damit arrangieren.“
Nach der Diagnose arbeitete er mit einem Coach zusammen und begann eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten. Die Idee, öffentliche Vorträge zum Bereich des Autismus zu halten und Interessierten einen persönlichen Einblick zu geben, entstand in Gesprächen mit dem Coach. Julian Leske ließ sich gern motivieren, da dieser Plan drei Dinge vereint, die er sehr gerne mag: Zug fahren, Menschen aufklären und neue Leute treffen.
Autismus – Eindrücke und Einblicke
Wie denken und erleben Autistinnen und Autisten die Welt? Julian zeigte es an einem anschaulichen Vergleich auf: „Man stelle sich vor, man steht auf einer Autobahnbrücke mit einer sechsspurigen Straße darunter und versucht eine Stunde lang, alle Kennzeichen der vorbeifahrenden Autos zu notieren.“ Eigentlich unmöglich und sehr anstrengend. Als Autist arbeite sein Gehirn genauso: Es selektiere nicht nach wichtigen und unwichtigen Reizen, es nehme einfach ungefiltert alles auf. Sein, wie er es nennt, „innerer Takt“, der Gedankenumsatz seines Gehirns, sei somit leicht erhöht. Dies könne er auch an seiner bevorzugten Musikrichtung zeigen, dem Hardcore-Techno. Diese Musikrichtung mit etwa 200 Beats per Minute sei schneller als sein Gehirn, daher sei dies entspannend für ihn.
Darüber hinaus gab er Einblicke in seine Ansichten zu sozialen Beziehungen und zu Liebe. Hier agiere er sehr überlegt: Er lege sich Strategien zurecht, analysiere die Menschen genau und bereite die Begegnungen vor. Ein mögliches Ziel in seinem Leben sei es außerdem, eine Partnerschaft aufzubauen und vielleicht eine Familie zu gründen; aber das sei in den heutigen Zeiten nicht immer einfach. Abschließend konnten Fragen gestellt werden. Eine von ihnen lautete, wie er sich entscheiden würde, wenn er die Wahl hätte, sein Leben mit oder ohne Autismus leben zu können: „Wenn ich mich entscheiden müsste, autistisch zu sein oder nicht, würde ich mich pro Autismus entscheiden, denn Autismus und meine Persönlichkeit bilden eine Einheit, die unumkehrbar ist.“